Andrew Taylor Still (1828 - 1917)
Der Begründer der Osteopathie

Markus Büsser, Ursula Schmalstieg; 2007/2013

Ich nehme für mich in Anspruch, Autor der Wissenschaft Osteopathie zu sein. Keine menschliche Hand hat ihre Gesetze geformt; ich erwarte keine grössere Ehre als die des Entdeckers.

– A. T. Still –

Andrew Taylor Still wurde 1828 in Virginia, an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika geboren. Zu dieser Zeit zählten die USA erst 24 Staaten, die nicht einmal ¼ der Fläche der heutigen USA abdeckten; doch seit dem Wegfall der englischen Kontrollen wurde die Siedlungsgrenze unaufhaltsam nach Westen verschoben. Stills Vater, ein Wanderprediger der Methodisten, folgte den Frontiers, und so kam Still 1837 in den Staat Missouri, damals der westlichste Staat im Bunde, und 1853 nach Kansas, wo er neben der Farmerei seinem Vater bei der medizinischen Versorgung der Indianer half. Dort und später im Sezessionskrieg wurde Still die Wirkungslosigkeit und z. T. auch Gefährlichkeit der damaligen Schulmedizin vor Augen geführt und als er 1864 hilflos mit ansehen musste, wie drei seiner Kinder an Meningitis starben, schwor er sich, eine bessere Medizin zu finden.

In den folgenden Jahren beschäftigte sich Still mit den verschiedensten Wissenschaften und Praktiken: Anatomie, Physiologie, Knocheneinrenken, Physik, Evolutionslehre, aber auch Grenzwissenschaften wie Phrenologie, Mesmerismus und Magnetismus. Nach 10-jährigem Suchen fand er schliesslich ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das ihm ermöglichte, den Menschen durch gezieltes manuelles Behandeln zu helfen, sich aus ihrem Leiden herauszuentwickeln. Von diesem Zeitpunkt an behandelte er alle Patienten ohne Medikamente und lehnte deren Einsatz auch vehement ab. Da Still in der Stellung der Knochen eine besondere Bedeutung für die Gesundheit erkannte, nannte er seine Entdeckung Osteopathie, was mit Heilmethode, die über die Knochen arbeitet, oder mit Wissenschaft der Leiden, die aus den Knochen kommen, übersetzt werden kann1. Stills wichtigste Grundsätze waren:

  1. Gesundheit ist gleichbedeutend mit dem physiologischen Funktionieren der «Körpermechanik».2
  2. Die Physiologie des Patienten muss unterstützt und nicht dessen Krankheit bekämpft werden. Denn das, was man Krankheiten nennt, sind nur Symptome, die auftreten, wenn der Körper nicht in seiner physiologischen Funktion arbeiten kann – Krankheiten an sich gibt es nicht.
  3. Da das Heil kommt bzw. die Krankheiten geht, sobald der Körper wieder seiner Natur gemäss funktioniert, ist es nicht der Arzt oder Therapeut, der heilt. Der Arzt oder Therapeut kann nur die Hindernisse beseitigen, die den Körper daran hindern, seiner Natur gemäss zu funktionieren. Danach aber muss er die Natur arbeiten lassen.
    Die Aufgabe des Therapeuten fasste Still folgendermassen zusammen:
    Find it – fix it – leave it alone! 3

Mit diesen Grundsätzen, einem riesigen anatomischen Wissen und einem aussergewöhnlichen Spürsinn konnte Still nicht nur bei offensichtlich mechanischen Problemen wie Bandscheibenvorfall oder Halskehre helfen, sondern auch bei Krankheiten wie Blutvergiftung, Tuberkulose oder Morphiumsucht. Zwar wurden Stills Ideen am Anfang abgelehnt und er selber fast geächtet, doch seine Behandlungen waren derart effektiv, dass sich die Osteopathie mit den Jahren durchsetzen konnte. Im Jahr 1892 eröffnete Still die American School of Osteopathy in Kirksville, Missouri, und innerhalb weniger Jahre breitete sich die Osteopathie explosionsartig aus: Dutzende von Schulen entstanden, die Tausende von Schülern ausbildeten. Mit der starken Verbreitung kam allerdings auch schnell eine Verwischung Stills Lehre und bald unterschieden sich die Osteopathen nicht mehr von den Schulmedizinern. Heute gibt es in Amerika zwei Ausbildungswege zum Arzt: Der eine ist der Doctor of Medicine D. M. und der andere ist der Doctor of Osteopathy D. O., wobei beide Ausbildungen gleichwertig sind und beide Ärzte sowohl Medikamente einsetzen als auch Operationen durchführen.

Einen anderen Verlauf nahm die Osteopathie-Bewegung in England. John Martin Littlejohn (1865-1947), ein hochdekorierter englischer Wissenschafter und Arzt, kam 1892 nach Kirksville, wo er derart fasziniert war von den Fähigkeiten Stills, dass er 8 Jahre in Kirksville blieb und dort Physiologie unterrichtete und Osteopathie studierte. 1900 verliess er dann Kirksville und gründete seine eigene Schule The American College of Osteopathy, Medicine and Surgery in Chicago. 1913 kehrte er dann nach England zurück, wo er 1917 The British School of Osteopathy (BSO) eröffnete. In England erhielten die Osteopathen nie den Status der Ärzte, wurden aber als eigenständige Therapeuten anerkannt, vergleichbar etwa mit den Physiotherapeuten. Deshalb blieben die englischen Doctors of Osteopathy viel näher bei der Osteopathie von Andrew Taylor Still.

  1. Osteo… : aus dem gr. ostéon: Wortbildungselement mit der Bedeutung Knochen;
    …pathie: über lat. -pathia aus gleichbed. gr. -patheia zu gr. pathos: Wortbildungselement mit der Bedeutung: 1.a) «Krankheit», «Erkrankung»; 1.b) «Krankheitslehre», «Heilmethode»; 2. «Gefühl», «Neigung»

  2. Still selber nannte sich gerne Mechanic of God («Gottes Mechaniker») und er betrachtete den Menschen als quasi vollkommene Maschine.

  3. Finde es – bring es in Ordnung – überlass es sich selber!

 
 

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